Werden Kinder gegen Pneumokokken geimpft, verschwinden diese Bakterien aus dem Nasen-Rachen-Raum. Dies schafft Nischen für andere Keime – mit noch unklaren Auswirkungen.

MPAs erhalten im Kanton Zug vier Franken, wenn sie Patienten zu einer Impfung überreden können.


Kaum ein Fachgebiet der Medizin hat sich in den letzten Jahren so stark entwickelt wie die Mikrobiologie. In rasantem Tempo wurden die klassischen Nachweisverfahren für Mikroorganismen – Anzucht auf Nährböden, Färben und Betrachten im Mikroskop – durch molekularbiologische Methoden ersetzt. Während es früher Tage bis Wochen dauerte, bis ein Keim dingfest gemacht werden konnte, erledigen Analyse-Automaten dies heute im Eiltempo. In weniger als einer Stunde kennt der Mikrobiologe meist nicht nur den Erreger, er weiß auch, wie viele Keime beispielsweise in einem Tropfen Patientenblut vorhanden sind, ob es sich um eine besonders aggressive Erregervariante handelt und welche Antibiotika am besten geeignet sind, um die Infektion zu behandeln.

Inzwischen haben auch Impfstoffforscher das Potenzial der modernen Mikrobiologie entdeckt und nutzen etwa DNA-Sequenzierungen, um die Auswirkungen einer Impfung auf das Mikrobiom – die Summe der Mikroorganismen auf äusseren oder inneren Körperoberflächen – zu analysieren. So untersuchte eine Gruppe von Wissenschaftern der Universität Utrecht kürzlich die mikrobielle Flora im Nasen-Rachen-Raum von 200 gesunden Kindern.¹

Die Hälfte der Probanden wurde anschliessend gegen Pneumokokken geimpft – mit einem Impfstoff, der sieben verschiedene Erregervarianten abdeckt. Die andere Hälfte erhielt eine Placebo-Vakzine. Mit einem sterilen Wattestäbchen wurde vor der Impfung und zwölf Monate danach ein Abstrich aus der Nase gemacht. Daraus isolierten die Forscher die vorhandenen Mikroorganismen und sequenzierten einen Teil ihres Erbguts jeweils komplett. Dies erlaubte die Identifizierung aller in dem Mikrobiom vorhandenen Bakterienarten und die Kartierung ihres Verwandtschaftsgrads. Während sich bei den nicht geimpften Kindern die mikrobielle Besiedlung des Nasen-Rachen-Raums nur graduell änderte, zeigten sich bei den geimpften Kindern grosse Verschiebungen. Die Pneumokokken-Varianten, gegen die der Impfstoff gerichtet war, wurden wie erwartet seltener oder verschwanden ganz. Die dadurch entstandenen «Nischen» wurden allerdings nicht nur von anderen Pneumokokken-Varianten besetzt. Auf einmal fanden sich auch sehr seltene Bakteriengattungen wie Veillonella, Prevotella und Leptotrichia, deren Vertreter gemeinhin als ungefährliche Besiedler des kindlichen Nasen-Rachen-Raums gelten. Beunruhigt waren die Forscher dagegen, als sie Erbgutsequenzen erkannten, die auf die Präsenz pathogener Keime hinwiesen, wie Streptokokken und Staphylokokken (klassische Eitererreger), Meningokokken (Verursacher einer Gehirnhautentzündung) und Haemophilus influenzae (ein Keim, der in inneren Organen zu Infektionen führen kann).

Das ursprüngliche Mikrobiom des Nasen-Rachen-Raums hatte sich bei den geimpften Kindern also in seiner Komposition grundlegend geändert. Frühere Studien von Schweizer Infektiologen hatten bereits Verschiebungen in der Mikroflora des Nasen-Rachen-Raums nach Antibiotikaeinnahme und Impfung aufgezeigt. Aber die Tiefe und Präzision der Erkenntnisse der niederländischen Forscher zeigen erstmals das Ausmass und die Komplexität dieser Änderungen. Die Erkenntnisse sind in mehrfacher Hinsicht wichtig: Eine Impfung, die gegen bestimmte Krankheitserreger schützen soll, verhindert tatsächlich die Präsenz dieser Erreger an der Eintrittspforte. Sie ist aber auch ein tiefer Eingriff in das mikrobielle Ökosystem mit möglicherweise negativen Auswirkungen auf die längerfristige Gesundheit der geimpften Person.
Da die Tendenz bei der Impfstoffentwicklung zu immer umfassenderen Vakzinen geht – Impfstoffe gegen 10 oder 13 Pneumokokken-Varianten stehen vor der Markteinführung –, werden auch die Auswirkungen auf das nasale Ökosystem immer unvorhersehbarer. Die niederländischen Forscher empfehlen daher, diese Auswirkungen von Multi-Komponenten-Impfstoffen erst in Studien zu überprüfen, bevor die Impfstoffe bei Kindern eingesetzt werden.

 

 

Quelle Bild & Text: Neue Zürcher Zeitung